Tsar to Lenin gehört zu den bedeutendsten Filmen des zwanzigsten Jahrhunderts. Gebannt wird der Zuschauer Zeuge der Russischen Revolution von 1917, die der Menschheitsgeschichte eine neue Wendung gab. Historische Ereignisse auf Film für die Nachwelt festzuhalten, war vor der Erfindung des Fernsehens und dem Zeitalter der rund um die Uhr laufenden Echtzeit-Berichterstattung etwas ganz Außergewöhnliches.
Dieser besondere Dokumentarfilm ist das Ergebnis einer komplizierten und konfliktreichen Zusammenarbeit zwischen dem bekannten amerikanischen Sozialisten Max Eastman (1883-1969) und dem russischstämmigen Filmproduzenten Herman Axelbank (1900-1979), der die umfangreichste Sammlung von Filmaufnahmen dieses epochalen Ereignisses zusammentrug.
In seinen Memoiren, „Love and Revolution: My Journey through an Epoch“, beschreibt Eastman anschaulich die Ursprünge des Films und den kreativen Prozess seiner Entstehung:
„Im Spätherbst des Jahres 1928 besuchte mich ein junger Mann namens Herman Axelbank, ein überzeugender junger Mann. Er war breit gebaut und klein, außerdem so behaart, dass sein Kinn immer bläulich schimmerte. Die Form seines Schädels, den er stets kurz geschoren hielt, verlieh ihm eine durchaus gebieterische Erscheinung, wären da nicht seine tiefblauen, warmen Augen gewesen, die von einem großherzigen Charakter zeugten. Und er besaß etwas, das für die Menschheit von großem Wert war: eine Sammlung aller – oder zumindest der meisten – wichtigen Filmaufnahmen von bedeutenden Ereignissen und Persönlichkeiten der Russischen Revolution ... Seine ausgeprägte Vorstellungskraft und zielstrebige Hartnäckigkeit wären eines Genies würdig gewesen, wenn sie nur mit einem einsichtsvollen Respekt vor den Zielen anderer einhergegangen wäre. Schon 1920 hatte er begonnen, diese Aufnahmen zu sammeln. Dabei bewies er unermüdliche Energie, Einfallsreichtum, ein feines Gespür für das historisch Wertvolle und ein unvergleichliches Geschick, das zu bekommen, was er wollte, ohne zu verlieren, was er bereits hatte.“
Axelbank bat Eastman, ihm bei der Zusammenstellung des Films zu helfen, die erklärenden Untertitel zu schreiben und ihn bei der Suche nach Geldgebern zu unterstützen. Mit Eastman hatte er eine gute Wahl getroffen. Als einer der ersten amerikanischen Unterstützer der bolschewistischen Revolution war Eastman in den 1920er Jahren in die Sowjetunion gereist, wo er enge politische und persönliche Beziehungen mit vielen Führern des sowjetischen Regimes, vor allem mit Leo Trotzki, geknüpft hatte. Mitte der 1920er Jahre hatte Eastman nicht nur die Biografie The Young Trotsky [Der junge Trotzki] verfasst, sondern auch die erste ausführliche Darstellung von Trotzkis politischem Kampf gegen die aufsteigende Sowjetbürokratie und ihren Anführer Josef Stalin, die sich an ein internationales Publikum richtete.
Eastman erklärte sich zur Mitarbeit an dem Projekt bereit und begann sogleich mit der Arbeit. Ende 1929 ergänzte er Axelbanks Archiv auf einer Europareise mit zusätzlichem Filmmaterial. Darunter befanden sich bemerkenswerte Aufnahmen des Zaren, die ihn einige Jahre vor der Revolution nackt beim Schwimmen mit seinen Höflingen zeigen. (Im Dokumentarfilm bemerkt Eastman in dieser Szene ironisch: „Zum ersten Mal sieht die Welt einen König in seiner wahren Gestalt.“)
Eastman gelang es auch, Alexander Kerenski für eine Filmaufnahme zu gewinnen. Der ehemalige Vorsitzende der Provisorischen Regierung, der nach dem Sturz durch die Bolschewiki ins amerikanische Exil ging, posierte für einige Sekunden vor der Kamera des amerikanischen Fotografen Man Ray. Filmische Aufzeichnungen von Stalin aus den entscheidenden Jahren der Revolution zwischen 1917 und 1921 konnte Eastman allerdings nicht aufspüren. Für ihr Fehlen gab es einen einfachen Grund: Stalins Rolle bei der Machteroberung der Bolschewiki war zu gering, um die Aufmerksamkeit der Fotografen auf sich zu ziehen.
Der Film wurde im Januar 1931 fertiggestellt. Eastman war zuversichtlich, dass Tsar to Lenin ein großes Publikum anziehen würde. In seinen Memoiren erinnerte er sich:
„Es gab ein starkes Interesse an der Revolution, das noch weitgehend unverfälscht war – noch nicht gesteuert und kontrolliert von den Geschichtsfälschern im Kreml. Damit will ich sagen, dass intelligente Amerikaner sich noch daran erinnern durften, dass Trotzki die Oktoberrevolution organisiert und die Rote Armee zum Sieg geführt hatte, und dass Lenin auch ohne Stalins Hilfe drei Schritte gehen konnte.“
Eastman beabsichtigte, den Film zu verkaufen, damit er über professionelle Kanäle vertrieben und einem breiten Publikum vorgestellt werden konnte. Zu denjenigen, denen Eastman den Film vorab vorführte, gehörte auch Charlie Chaplin, der sich begeistert zeigte. Doch zu diesem Zeitpunkt ging die Beziehung zwischen Eastman und Axelbank in die Brüche. Letzterer, der sein ganzes Leben dem Projekt Tsar to Lenin gewidmet hatte und sich über die immense historische und politische Bedeutung des Films bewusst war, fürchtete die Folgen eines Verkaufs an einen mächtigen Hollywood-Konzern wie Columbia Pictures. Wie sich später zeigen sollte, waren Axelbanks Befürchtungen sehr wohl begründet, wenn auch sein Verdacht bezüglich der Motive Eastmans unberechtigt war. Er warf Eastman vor, den Film stehlen zu wollen. Aufgrund dieses Konflikts verzögerte sich die Herausgabe von Tsar to Lenin um sechs volle Jahre.
Diese Verzögerung hatte auch Vorteile. Als der Rechtsstreit zwischen Eastman und Axelbank in Teilen beigelegt war, hatte sich die Tontechnik bereits so weit fortentwickelt, dass die ursprünglich für den Dokumentarfilm geschriebenen Untertitel überholt waren. Eastman begleitete Tsar to Lenin mit einem meisterhaften Kommentar, den er mit echter Leidenschaft und dem Gespür eines Schauspielers für das richtige Timing sprach.
So wurde der Film am 6. März 1937 erstmals am Filmarte-Theater in der 58. Straße in New York aufgeführt. Neun Jahre hatte es gedauert, bis der Film die Öffentlichkeit erreichte, und die Resonanz der Kritiker wie des Publikums war überwältigend. Die New York Times lobte Tsar to Lenin als „wichtiges Werk, ... eine vollständige, unparteiische und intelligente Filmdarstellung der Geschichte der Russischen Revolution“. Der Kritiker der New York Post bezeichnete den Film als „den wichtigsten Film, den ich in meinem Leben je gesehen habe ... Meiner Meinung nach der wichtigste und fesselndste Film der Filmgeschichte“.
Der Film zog ein riesiges Publikum an. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die sowjetische Regierung und die vollständig stalinisierte Kommunistische Partei der USA eine massive Kampagne organisierten, um den Film zu diskreditieren und seine Vorführung zu verhindern. Da der Film inmitten der Moskauer Prozesse und der blutigen, gegen die alten Bolschewiki gerichteten Säuberungen erschien, stellte er in den Augen des stalinistischen Regimes ein gefährliches Hindernis für seine Geschichtsfälschungen dar. Eastman erinnerte sich:
„Trotzki hatte die Oktoberrevolution angeführt und die Rote Armee aufgebaut – so zeigten es die Filmaufnahmen. Aber die Macht lag inzwischen vollstän- dig in Stalins Händen. Tsar to Lenin schaffte es kaum über das Filmarte-Theater hinaus. Fünf Tage, nachdem der Film [von der New Yorker Presse] mit Lob überschüttet worden war, erschien unter großen Lettern ein Artikel im Daily Worker [der Tageszeitung der Kommunistischen Partei der USA]:
,Max Eastman, der führende Apologet der Trotzki-Bande, den Verrätern am sozialistischen Sowjetland, hat Ausschnitte aus Wochenschauen und Dokumentarfilmen zusammengestellt. Dieser Mann ist ein Experte auf dem Gebiet der Verzerrung, Täuschung, Gaunerei, Zweideutigkeiten und offenen Lügen ... Tsar to Lenin muss boykottiert werden ... Protestiert bei der Leitung des Filmarte-Theaters ... Macht den anderen Kinos klar, dass Tsar to Lenin pure trotzkistische Propaganda ist und als solche von den Freunden der Freiheit nicht geduldet werden kann ... Boykottiert Tsar to Lenin!‘“
Noch heimtückischer als die antitrotzkistischen Tiraden des Daily Worker war die Kampagne, die das sowjetische Regime hinter den Kulissen organisierte. Das Regime drohte den Filmverleihen mit dem Entzug der Lizenz für die Vermarktung sowjetischer Filme, z. B. des berühmten Sergej Eisenstein, falls sie Tsar to Lenin in die Kinos bringen würden. Diese Kampagne erwies sich als außerordentlich wirkungsvoll. Tsar to Lenin, erinnerte sich Eastman, „lief überhaupt nie. Sein Triumph im Filmarte war zunächst einmal auch sein Ende“.
Man sagt, Bücher haben ihr eigenes Schicksal. Das gilt auch für Filme. Tsar to Lenin wurde Opfer seiner künstlerischen und historischen Integrität. Erst wurde er von den Stalinisten und liberalen Linken verunglimpft, die ein Porträt der Revolution und der Rolle Trotzkis, das den Fakten entsprach, nicht ertragen konnten.
Der Kalte Krieg brachte neue Probleme für Herman Axelbank und seine Dokumentation mit sich. Ein Film, der die Oktoberrevolution und die Bolschewiki in einem günstigen Licht darstellte, konnte nun fast gar nicht mehr gezeigt werden. Eastman war inzwischen selbst weit nach rechts gerückt und versuchte Vorführungen des Films zu verhindern. Er hatte sich von den radikalen Ansichten, die in seinem Filmkommentar zum Ausdruck kamen, längst distanziert. Axelbank versuchte sein Werk zu retten, indem er einen anderen Kommentar einfügen ließ. In dieser Form wurde der Film gelegentlich in kleinen Kinos und Universitäten vorgeführt. Der neue Kommentar war jedoch eine antikommunistische Verzerrung des ursprünglichen Kommentars Eastmans und ließ die von Axelbank zusammengestellten Bilder zur Farce werden.
Eastman starb im Jahr 1969 im Alter von 86 Jahren. Axelbanks Film war weitgehend in Vergessenheit geraten. Erst Mitte der 1970er Jahre stellte die Workers League, die Vorgängerin der Socialist Equality Party, den Kontakt zu Herman Axelbank her. Mittlerweile schon in seinen Siebzigern, zeigte er sich kämpferisch wie eh und je.
Ich teilte Axelbank mit, dass die Workers League den Film unbedingt kaufen wollte, und sei es nur, um sicherzustellen, dass er niemals verlorengehen würde. Axelbanks ursprünglicher Forderung konnten wir jedoch nicht entsprechen. „Bettelt, leiht Euch was oder stehlt“, war seine Antwort auf mein Bitten um günstigere Konditionen. Doch nach langwierigen Verhandlungen wurde eine Einigung erzielt, und Axelbank übertrug im Januar 1978 die Rechte an Tsar to Lenin auf die Workers League. Axelbank, bis zum Schluss voller Tatkraft, verstarb unerwartet anderthalb Jahre später, im Juli 1979.
In den folgenden Jahren organisierten die Workers League und ihre Nachfolgeorganisation, die Socialist Equality Party (SEP), zahlreiche Vorführungen des Films. Tsar to Lenin wurde zudem auf der ganzen Welt von den politischen Gesinnungsgenossen der SEP im Internationalen Komitee der Vierten Internationale gefördert. Anlässlich der Hundertjahrfeier der Oktoberrevolution ist es heute an der Zeit, diesen außergewöhnlichen Film als DVD herauszugeben und allen, die an einem Verständnis der Oktoberrevolution interessiert sind, zur Verfügung zu stellen.
Achtzig Jahre nach seiner Premiere bleibt die Bedeutung der Dokumentation Tsar to Lenin ungebrochen. Vor dem Hintergrund einer neuen Welle von Geschichtsfälschung nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 gewinnt der Film außergewöhnliche Relevanz. Erneut befindet sich der Kapitalismus in einer internationalen Krise, die von wirtschaftlichem Zusammenbruch, wachsender sozialer Ungleichheit und zunehmendem Militarismus geprägt ist. Tsar to Lenin führt uns einen historischen Moment vor Augen, in dem sich die größte revolutionäre Bewegung, die die Welt je gesehen hatte, von sozialistischen Idealen leiten ließ.
David North
Juli 2012, aktualisiert im August 2016